Verzeihen – und dann?

Anfang des Jahres erhielt ich einen Brief von einem alten Freund, in dem er mich um Verzeihung bittet.

Angesichts dieser Bitte ist zunächst einmal Hilflosigkeit.

Ich weiß nicht, ob und wie ich dieser Bitte nachkommen kann.

Sie inspiriert mich, einmal mehr über Vergebung zu kontemplieren.

Ich unterscheide zwischen einem Ausdruck des Bedauerns und der Bitte um Verzeihung.

Natürlich kann es wichtig in Beziehungen sein, etwas zurückzunehmen, oder schlicht „Es tut mir leid.“ zu sagen.

Beim Begreifen von Vergebung stoße ich immer wieder auf den Faktor Arroganz. Wie könnte ich jemandem etwas vergeben, das sich in einer ganzen Kette von Ereignissen zutrug? Eine Situation, die aus etwas erwachsen ist, stattfindet und aus der dann weiteres Wachstum folgt. Wer ist denn dieses Ich, das da wem verzeihen könnte?

Auf einer Ebene ist uns längst vergeben.

Vergeben und Verzeihen kennt keine Zahl noch ein Ende. Vergebung ist ohne Anfang und ohne Ende. Sie geschieht täglich unaufhörlich, denn sie kommt von Gott. Dietrich Bonhoeffer

Es gibt eine andere Ebene, da ist bereits Vergebung während Verletzungen geschehen.

Ich erinnere mich an Situationen mit dem Freund, die einerseits schmerzhaft waren und ich entsetzt war über sein Handeln. Zugleich konnte ich darin sein Wesen erkennen und wusste, er muss das jetzt so machen, einfach, weil er er ist.

Und dann gibt es noch eine Ebene, das ist die menschlich heiße, da taucht die Frage „Verzeihen, und dann?“ auf.

Wofür genau möge ich ihm verzeihen?

„Für all die Situationen, wo ich dich verletzt habe, oder dir in alte Wunden gestochen habe.“

Das kann ich direkt erwidern: Ja, das tut mir umgekehrt auch leid. Und das tut mir gegenüber jedem Menschen leid, ganz aufrichtig, immer wieder.

Angesichts unserer langjährigen, teilweise innigen Freundschaft, klingt das aber auch ganz schön pau schal und folgende Fragen drängen sich auf:

Was genau tut ihm leid?

Womit glaubt er, mich verletzt zu haben?

Was konkret hätte er gerne anders gemacht?

Was willst er künftig anders machen?

Oder ist die Bitte um Verzeihung der Punkt, den er hinter unsere Freundschaft macht?

Wie würde ich umgekehrt diese Fragen beantworten?

Ein Gespräch über diese Fragen scheint mir unerlässlich zu sein, wenn man denn die Freundschaft fortsetzen wollte.

Ich sehe drei Aspekte der Vergebung:

Im eigenen Herzen vom Groll und Vorwurf ablassen und ganz in das fallen, was das Herz ist. Sich selbst lossprechen und damit alle Beteiligten eines Streits, Konflikts, Scharmützels und überhaupt alle. Denn wo Vergebung geschieht, gibt`s keine anderen mehr.

Aus der Vergebensvibration im Herzen erwächst eine Handlung, eine Absicht zur Wiedergutmachung o.ä.. Vielleicht möchte man sich in dieser neuen Offenheit dem Du zuwenden, etwas zurücknehmen, eine Hand reichen, ein Geschenk machen…

Man lässt sein, was war und schaut frisch aufeinander. Man erkennt an, dass Vergeben nicht gleich Vergessen ist und wird sich des Fragilen in sich, dem Gegenüber und in der Beziehung bewusst. Vielleicht wird hier auch offensichtlich, dass man sich nichts mehr nachsieht, aber auch nicht mehr zusammenkommt.

„Vergeben bedeutet, dass ich aufhöre, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen.“